Freitag, 1. Juli 2011

Egon Friedell über Martin Luther (I)

Die Nachtigall von Wittenberg

Das dunkle oder klare, bewußte oder unbewußte Vorgefühl einer großen Umwälzung und Umwertung erzeugte in nahezu allen Kreisen der Nation eine ungeheure und vorwiegend freudig gefärbte Spannung. In zahlreichen Schriften der Zeit kehrt das Bild von der »Morgenröte« wieder, am schönsten in Hans Sachsens berühmtem Gedicht: »Die wittenbergisch Nachtigall«: »Wacht auf, es nahet sich dem Tag! Ich höre singen im grünen Hag die wonnigliche Nachtigall; ihr Lied durchklinget Berg und Tal. Die Nacht neigt sich gen Okzident, der Tag geht auf von Orient. Die rotbrünstige Morgenrot her durch die trüben Wolken geht, daraus die lichte Sonn' tut blicken, der Mond tut sich hernieder drücken.« In einem Drama, das denselben Titel führt, läßt Strindberg Ulrich von Hutten seine weltbekannten Worte »Die Geister erwachen, es ist eine Lust zu leben!« durch den Ausruf ergänzen: »Oh, jetzt kommt etwas Neues!«

Was war nun dieses Neue? Es war Martin Luther. <Biographie von Hans Mayer>


Es gibt vielleicht keine zweite Persönlichkeit in der Weltgeschichte, über die so widerstreitende Ansichten geherrscht haben und noch herrschen wie über den Gegenpapst von Wittenberg. Katholiken haben ihn begeistert gepriesen und Protestanten haben ihn leidenschaftlich verabscheut, Atheisten haben ihn für einen geistigen Erretter und fromme Männer haben ihn für einen Religionsverderber erklärt. Den einen gilt er als der »deutsche Catilina«, den andern als der »größte Wohltäter der Menschheit«; Goethe sieht in ihm »ein Genie sehr bedeutender Art«, Nietzsche einen »auf den Raum seiner Nagelschuhe beschränkten Bauer«; Schiller nennt ihn einen Kämpfer für die Freiheit der Vernunft, Friedrich der Große einen »wütenden Mönch und barbarischen Schriftsteller«; man hat zu beweisen versucht, daß er ein Fresser, Säufer, Lügner, Fälscher, Schänder, Luetiker, Paranoiker, Selbstmörder gewesen sei, und deutsche Künstler haben ihn mit einem Strahlenkranz ums Haupt gemalt.

Reformatoren vor der Reformation

Einige ihm feindliche Forscher waren auch bemüht, ihm jegliche schöpferische Originalität abzuerkennen, indem sie darauf hinwiesen, daß alle Ideen, die er vertreten hat, schon vor ihm ausgesprochen worden seien und daß es eine ganze Anzahl »Reformatoren vor der Reformation« gegeben habe, die sogar bedeutender waren als er. Und in der Tat: die Strömungen, aus denen die Reformation entstand, sind weitaus älter als Luther...

Wir haben auch bereits hervorgehoben, daß Wiclif die ganze Reformation vorweggenommen hat, ja in wesentlichen Punkten über sie hinausgegangen ist. Er lehrt unter anderem: Bilder sollen nicht angebetet werden; Reliquien sollen nicht heiliggehalten werden; der Papst ist nicht der Nachfolger Petri; nicht er, sondern Gott allein kann Sünden vergeben; der Segen der Bischöfe hat keinen Wert; Priestern soll die Ehe gestattet sein; Wein und Brot des Abendmahls verwandeln sich nicht in den wirklichen Leib Christi; wahre Christen empfangen den Leib Christi täglich durch ihren Glauben; man soll nicht zur Jungfrau Maria beten; man kann ebensogut an anderen Orten beten als in der Kirche... Auch Erasmus von Rotterdam, die Leuchte des Jahrhunderts, verspottete die Heiligenverehrung, die Transsubstantiationslehre und die ganze scholastische Dogmatik, von deren Spitzfindigkeiten, wie er betonte, Christus und die Apostel nicht das mindeste verstehen würden. Die Sakramente hält er für bloße indifferente Zeremonien, die Heilige Schrift für vielfach gefälscht und teilweise widerspruchsvoll und unverständlich: die Gottheit Christi und die Dreieinigkeit seien aus ihr nicht zu erweisen; »keine schädlicheren Feinde aber hat die Kirche als die Päpste, denn sie ermorden durch ihr fluchwürdiges Leben Christus noch einmal.«

Der Spatenstich

Aber gerade an dem Beispiel des Erasmus von Rotterdam sehen wir den ungeheuren Unterschied, der zwischen Luther und seinen Vorläufern besteht. Denn diese lehrten bloß die Reform, er aber lebte sie. Hierin: daß er alle diese Theorien mit seinem kochenden Blut gefüllt hat, bestand seine unvergleichliche Originalität. Erasmus war zweifellos der farbigere, geräumigere und schärfere Geist, der konsequentere, universellere und sogar kühnere Denker; er war aber eben nur ein Denker. Luther war ein großer Mensch und Erasmus war nur ein großer Kopf. Es ist ihm niemals in den Sinn gekommen, auch nur für eine einzige seiner Ideen praktisch Zeugnis abzulegen. Er, der selber viel reformatorischer und radikaler orientiert war als die meisten Reformatoren, ist niemals für die neue Bewegung mit seiner Person eingetreten, sondern hat sie bei jeder Gelegenheit furchtsam verleugnet. Wiederholt betont er in seinen Briefen, daß er die Schriften Luthers überhaupt kaum kenne, was sicher eine Angstlüge war; seinem alten Freund Hutten hat er, als er verarmt, geächtet und dem Tode nahe in Basel bei ihm Schutz suchte, schroff die Tür gewiesen. Er zittere, hieß es, bei dem Worte Tod. Dies wäre jedoch bei einem so völlig geistigen Menschen noch durchaus verständlich gewesen. Aber er war auch nicht frei von der noch um vieles unedleren Furcht um Geld und Einfluß: er zitterte auch um die Pfründen und reichen Geschenke, die er der Kirche verdankte, und um sein Ansehen in der geistlichen Creme: nicht mit Unrecht warfen seine Feinde ihm vor, er lasse sich wie ein Hund von einem Stück Brot locken. Deshalb ist die Geschichte über ihn hinweggegangen und nennt nicht ihn, sondern den beschränkten, eigensinnigen Bauernsohn als den großen Erneuerer und Wohltäter der Menschheit. Denn die Rangordnung der Menschen wird im allgemeinen viel weniger durch ihr Denken als durch ihr Tun bestimmt. Seneca war ein größerer Philosoph als Paulus, und doch stellen wir diesen unvergleichlich höher. Denn der arme Seneca argumentierte und deklamierte zwar sehr profund und packend über Menschenliebe und stoische Bedürfnislosigkeit, aber das war der eine Seneca, der philosophische: der andere Seneca, der Seneca des Lebens, war der skrupellose Geldmacher und Millionär, der liebedienerische Genosse neronischer Verbrechen.

»Neues« hat Luther in der Tat wenig gebracht. Aber hierin besteht auch gar nicht die Aufgabe des großen Mannes auf dieser Erde. In geistigen Dingen entscheidet niemals das Was, sondern immer nur das Wie. Das Genie tut den letzten Spatenstich: das, nicht mehr und nicht weniger, ist seine göttliche Mission. Es ist kein Neuigkeitenkrämer. Es sagt Dinge, die im Grunde jeder sagen könnte, aber es sagt sie so kurz und gut, so tief und empfunden, wie sie niemand sagen könnte. Es wiederholt einen Zeitgedanken, der in vielen, in allen schon dumpf schlummerte, aber es wiederholt ihn mit einer so hinreißenden Überzeugungskraft und entwaffnenden Simplizität, daß er erst jetzt Gemeingut wird.

Die »Ideen«, die großen geistigen Strömungen sind wohl immer das, was den Wandel und Fortgang des historischen Verlaufs bestimmt; aber diese Ideen knüpfen sich, das können wir in unserer ganzen Erfahrung bestätigt finden, stets an große Persönlichkeiten. Die Weltgeschichte wird von einzelnen prominenten Menschen gemacht, von Menschen, in denen der »Geist der Zeit« so konzentriert verkörpert ist, daß er nun für jedermann lebendig, fruchtbar und wirksam wird. Die Idee ist immer das Primäre, gewiß; aber Leben und Realität gewinnt sie immer nur in bestimmten Individuen.

Luther hat die Reformation nicht erfunden, etwa wie Auer das Auerlicht oder Morse den Morsetaster; aber er war so erfüllt von dem neuen Licht seiner Zeit wie keiner, und dadurch hat er es erst sichtbar gemacht für alle Welt. Er war die Zunge seines Jahrhunderts, er hat das schöpferische Wort gesprochen, das immer den Anfang macht. Wir werden später glänzenderen Männern begegnen, reicheren und differenzierteren, freieren und seelenkundigeren, aber keinem, der ein vollerer Ausdruck des Willens seiner Zeit und ihrer innersten Bedürfnisses war, der einfacher und gedrängter, leuchtender und schlagender im Namen seiner Mitlebenden gesagt hätte, was ist und was not tut. Und darum hat auch der größte Theolog unserer Tage, Adolf von Harnack, seine Gedächtnisrede zur Feier des vierhundertsten Geburtstags Luthers mit dem Satz beschließen können: »Den Weg zum Ziele hat uns nach einer langen Nacht der Mann gewiesen, von dem wir das Wort wagen dürfen: er war die Reformation.«

Das Doppelantlitz Luthers

Wenn man versuchen will, die Persönlichkeit Luthers einigermaßen zu begreifen und das ist für die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts schwieriger, als sie gemeinhin annehmen , so wird man wohl zunächst von der Tatsache ausgehen müssen, daß er ein ausgesprochener Übergangsmensch war, in dem sich Altes und Neues in höchst seltsamer Weise mischte. Gerade diese eigentümliche Legierung aus Altem und Neuem ist ja vielleicht überhaupt der Stoff, aus dem die großen Erneuerer, die Reformatoren und Regeneratoren jeglicher Art gemacht sind, und wir werden diesem Typus noch öfter begegnen. Die Gründe für diesen paradoxen Sachverhalt liegen ganz nahe. Nur weil das Alte in allen diesen Revolutionären noch stark genug lebte, vermochte es in ihnen jenen inbrünstigen schöpferischen Haß zu erzeugen, der sie dazu anreizte und befähigte, die konzentrierte Kraft ihrer ganzen Existenz der Bekämpfung und Beseitigung dieses Alten zu widmen. Um etwas mit der tiefsten Leidenschaft bekriegen zu können, muß man aufs tiefste daran leiden können, und um daran wirklich leiden zu können, muß man es sein. Nur der Manichäer Augustinus konnte zum Kirchenvater werden; nur der Altaristokrat Graf Mirabeau konnte die Französische Revolution ins Rollen bringen; nur der Pastorssohn Friedrich Nietzsche konnte Antichrist und Immoralist werden; nur Männer von so durchaus bürgerlicher Abstammung und Erziehung wie Marx und Lassalle konnten den Sozialismus begründen; und nur ein katholischer Priester konnte den Katholizismus in seinem innersten Kern auflösen. Wer Paulus werden will, muß vorher Saulus gewesen sein, ja im Grunde sein ganzes Leben lang ein Stück Saulus bleiben: nur aus diesem immerwährenden Kampf gegen sich selbst und seine eigene Vergangenheit kann er die Kraft zum Kampf für die Zukunft schöpfen.

Der letzte Mönch

Luther war in seiner seelischen Grundstruktur noch eine durchaus mittelalterliche Erscheinung. Seine ganze Gestalt hat etwas imposant Einheitliches, Hieratisches, Steinernes, Gebundenes, sie erinnert in ihrer scharfen und starren Profilierung an eine gotische Bildsäule. Sein Wollen war von einer genialen dogmatischen Einseitigkeit, schematisch und gradlinig, sein Denken triebhaft, affektbetont, im Gefühl verankert: er dachte gewissermaßen in fixen Ideen. Er blieb verschont von dem Fluch und der Begnadung des modernen Menschen, die Dinge von allen Seiten, sozusagen mit Facettenaugen betrachten zu müssen. Und doch sind gerade seine Tage durch das Heraufkommen differenzierter, verwickelter, polychromer Persönlichkeiten gekennzeichnet: er ist der Zeitgenosse eines luziferischen Ironikers wie Rabelais und aller der großen italienischen Renaissancemenschen; aber auch unter seinen Landsleuten fand sich schon ein Weltmann und Diplomat von der seelischen Elastizität des Kurfürsten Moritz von Sachsen, ein Psychologe von der Buntheit und Subtilität des Erasmus, eine so oszillierende Mischfigur wie der Doktor Paracelsus. In Luthers Seele dagegen gab es keine Nüancen und Brechungen, sondern die Kontraste lagen bei ihm noch so hart nebeneinander, wie wir dies beim mittelalterlichen Menschen gesehen haben: alles in starken Tinten, jäh wechselnd, ohne Verschmelzung und Übergang: düsterste Verzweiflung und hellste Zuversicht, strahlendste Güte und finsterster Zorn, mildeste Zartheit und rauheste Tatkraft. Dazu kommt noch als ein der neuen Zeit durchaus entgegengesetzter Zug das völlig Instinktmäßige, Elementare, Unreflektierte, das Luthers Handeln kennzeichnet. Der Rationalismus, den wir als das große Thema der Neuzeit erkannt haben, hatte über ihn keine Macht: er verabscheute die Vernunft und ihre Werke wie nur irgendein Scholastiker und nannte sie »des Teufels Hure«, die neue Astronomie hat er abgelehnt, weil sie mit der Bibel nicht in Einklang stand, die großen geographischen Entdeckungen des Zeitalters sind an ihm spurlos vorübergegangen. Er war auch nicht »sozial« denkend, wie sein Verhalten im Bauernkrieg gezeigt hat, überhaupt Ordnungsfanatiker, immer auf der Seite der »Obrigkeit« und in allen gesellschaftlichen und politischen Fragen ein Anhänger der mittelalterlichen Gebundenheit.

Auch sein Leben zeigt nichts von jener mathematischen Planmäßigkeit und Überhelle, die das Grundmerkmal der modernen Geisteshaltung bildet: die treibende Kraft in ihm war das Unbewußte; ohne daß er es gewollt hätte, war er plötzlich der Held der Zeit, ohne daß er es gesucht hätte, sprach er das Wort aus, das allen auf den Lippen lag: mit nachtwandlerischer Sicherheit ging er den Weg, auf dem schon so viele vor ihm gestürzt waren. Daß er inmitten einer gärenden, tastenden, zerrissenen Zeit ein Ganzer, noch ein Stück ungebrochener mittelalterlicher Kraft und Selbstgewißheit war, daß er mit dem Antlitz in ferne neue Zukunften blickte, mit den Füßen aber fest und breit auf demalten ersessenen Boden stand, eben dies machte ihn zum Führer und befälligte ihn, als ein zweiter Moses an der Scheide zweier Weltalter die Fluten des Alten und des Neuen mit seinem Zauberstab zu teilen. Er ist, um es mit einem Wort zu sagen, der letzte große Mönch, den Europa gesehen hat, ähnlich wie Winckelmann im Zeitalter des sterbenden Klassizismus der letzte große Humanist und Bismarck in der Ära des siegreichen Liberalismus der letzte große Junker gewesen ist.

Aber anderseits hat Luther geistige Zusammenhänge gesehen, die erst in Jahrhunderten ihre volle lebendige Verwirklichung finden sollten. Das Moderne in Luthers Denken beruht im wesentlichen auf drei Momenten. Zunächst auf seinem Individualismus. Dadurch, daß er die Religion zu einer Sache des inneren Erlebnisses machte, hat er auf dem höchsten Gebiete menschlicher Seelenbetätigung etwas Ähnliches vollbracht wie die italienischen Künstler auf dem Gebiete der Phantasie. In der Anweisung Luthers, daß jede Seele sich ihren eigenen Gott aus dem Innersten neu erschaffen müsse, lag die letzte und tiefste Befreiung der Persönlichkeit. Hiermit verband sich aber als zweites ein demokratisches Moment. Indem Luther verkündete, daß jeder Gläubige von wahrhaft geistlichem Stande, jedes Glied der Kirche ein Priester sei, vernichtete er das mittelalterliche Stellvertretungssystem, das der Laienwelt den Verkehr mit Christus nur durch besondere Mittelspersonen: durch Christi Statthalter und dessen Beamtenhierarchie gestattet hatte, und führte damit in das kirchliche Leben dasselbe Gleichberechtigungsprinzip ein, das die Französische Revolution später in das politische Leben brachte. Und drittens hat er dadurch, daß er das ganze profane Leben des Tages für eine Art Gottesdienst erklärte, ein ganz neues weltliches Element in die Religion gebracht. Mit der Feststellung, daß man überall und zu jeder Stunde, in jedem Stand und Beruf, Amt und Gewerbe Gott wohlgefällig sein könne, hat Luther eine Art Heiligsprechung der Arbeit vollzogen: eine Tat von unermeßlichen Folgen, mit der wir uns später noch etwas genauer zu beschäftigen haben werden.

Die große Krisis

Häckel hat bekanntlich als »biogenetisches Grundgesetz« den Satz aufgestellt: die Ontogenese, die Keimesgeschichte, ist die gedrängte Rekapitulation der Phylogenese, der Stammesgeschichte, das heißt: der Mensch wiederholt im Mutterleib gleichsam in einem kurzen Auszug die gesamte Stufenreihe seiner Tierahnen von der Urzelle bis zu seiner eigenen Spezies. In ähnlicher Weise hat Luther den ganzen Entwicklungsgang der katholischen Kirche durchlaufen: die Kirchengeschichte entspricht der Phylogenese, seine eigene Geschichte bis zum großen »Durchbruch« der Ontogenese. Er begann mit dem kompakten Glauben des frühen Mittelalters an die Wirksamkeit der Sakramente und der Heiligen, er ergab sich in Erfurt den Doktrinen der strengen Scholastik, er suchte im Augustinerkloster mit einer Inbrunst, die an Selbstvernichtung grenzte, das Heil in mönchischer Askese, in Beten, Frieren, Wachen und Fasten, er widmete sich in Wittenberg mit glühender Begeisterung den Lehren der Mystik, er wurde in Rom von der großen antiklerikalen Strömung erfaßt, die bereits seit Menschenaltern die Welt erschütterte, ohne noch im geringsten Antipapist zu sein, und er hat erst als völlig ausgereifter Mann, auf der Höhe seines Lebens den Bruch mit dem Papsttum und der alleinseligmachenden Kirche vollzogen.

Die große Krisis im Leben Luthers fällt in seine Klosterzeit. Er befand sich damals in jenem gefährlichen Alter, wo gerade genial veranlagte Menschen sehr häufig an sich und ihrer Existenzberechtigung völlig zu verzweifeln pflegen. Carlyle, der mit Luther manche Ähnlichkeit besitzt, hat diesen Zustand in seinem Roman »Sartor resartus«, einer Art Selbstbiographie, sehr anschaulich geschildert. Darin erzählt der Held von sich unter anderem: »Es war mir, als ob alle Dinge oben im Himmel und unten auf Erden mir nur zum Schaden wären und Himmel und Erde nichts weiter seien als der grenzenlose Rachen eines gefräßigen Ungeheuers, von dem ich zitternd erwartete, daß es mich verschlingen werde.« Aber als er eines Tages wiederum, von seinen Zweifeln gepeinigt, ruhelos durch die Straßen irrt, kommt ihm eine plötzliche Erleuchtung, die er seine »Bekehrung« nennt. »Mit einem Male stieg ein Gedanke in mir auf und fragte mich: Wovor fürchtest du dich eigentlich? Warum willst du ewig klagen und jammern und zitternd und furchtsam wie ein Feigling umherschleichen? Was ist die Summe des Schlimmsten, das dich treffen kann? Tod? Wohlan denn, Tod; und sage auch, die Qualen Tophets und alles dessen, was der Mensch oder der Teufel gegen dich tun kann und will! Hast du kein Herz? Kannst du nicht alles, was es auch sei, erdulden und als ein Kind der Freiheit, obschon ausgestoßen, selbst Tophet unter die Füße treten, während es dich verzehrt? So laß es denn kommen! Ich will ihm begegnen und ihm Trotz bieten. Und während ich dies dachte, rauschte es wie ein feuriger Strom über meine ganze Seele, und ich schüttelte die niedrige Furcht auf immer ab. Ich war stark in ungeahnter Stärke: ein Geist, fast ein Gott. Von dieser Zeit an war die Natur meines Elends eine andere.«

Dieser Zustand gänzlicher Ratlosigkeit und fast nihilistischer Resignation ist es, der im Leben fast aller großen geistigen Potenzen eine entscheidende Epoche bedeutet. Es ist die Übergangszeit, in der der werdende Geist sich einerseits nicht mehr rein aufnehmend zu verhalten vermag und anderseits noch nicht die klaren Richtlinien einer kommenden Produktivität gefunden hat. Man hat bereits den geschärften Blick für die Widersprüchlichkeit, Unvollkommenheit, ja Sinnlosigkeit so vieler Dinge und Beziehungen, und man hat noch nicht das, was allein diesem Pessimismus und der hohen Reizbarkeit, die die Vorbedingung alles genialen Schaffens bildet, die Waage zu halten vermag: das klare und sichere Bewußtsein einer Aufgabe. Die Unmöglichkeit, im bisherigen Zustand der Konvention, des Schülers zu leben, ist bereits erkannt, die Möglichkeit, schöpferisch zu wirken, eine eigene Welt zu gestalten und zu lehren, ist noch nicht erkannt. Das erschreckte Auge erblickt daher überall nur negative Instanzen. Es ist ein Stadium der völligen Selbstverneinung, der Selbstmordstimmung. Aber gerade darum vor allem müssen wir Luther ein Genie nennen, weil er, von allen erfolgreichen Reformatoren jener Zeit der einzige, sich in dämonischem Ringen eine eigene Welt aufgebaut hat.

Jehovah indelebilis

Die Wurzel jener großen Verzweiflung, die Luther damals zu Boden drückte und fast zu vernichten drohte, war die Angst vor Gott und seinem Gesetz. Es war dieselbe furchtbar aufwühlende Frage, die auch Paulus gepeinigt hatte, als er noch Pharisäer war: wie kann ich den Zorn Gottes vermeiden, wie seinem Eifer und seinen so strengen, fast unerfüllbaren Geboten Genüge tun? Es war, wie man sieht, der Judengott, der Luther so entsetzlich schreckte. Wieder einmal wurde ein wahrhaftiger, für Kompromisse und Zweideutigkeiten nicht geschaffener Mensch durch jene schauerliche Paradoxie in Verwirrung gebracht, die durch das ganze Christentum geht, jenen ungeheuren Riß, den zu verkleistern bereits fünfzig Menschengenerationen vergeblich ihren Scharfsinn, ihr Wissen und ihren Glauben aufgeboten hatten: er besteht darin, daß man einen rein national gedachten, nur den Interessen seiner Landsleute zugewandten, jede Konkurrenz unversöhnlich verfolgenden harten und herrischen Firmenchef, wie es der Judengott ist, mit Gott zu identifizieren suchte. Etwas Ähnliches hatten ja auch schon die Stoiker unternommen, indem sie behaupteten, Gott sei nichts anderes als der vergeistigte Zeus. Das eine ist so blasphemisch wie das andere. Ganz folgerichtig erklärten denn auch die Marcioniten, die klarsten und schärfsten Denker unter den frühen Christen, es existierten zwei Gottheiten, nämlich der »Demiurg«, der die Welt geschaffen habe (unter »Welt« verstanden sie »Juden« und erklärten daher den Weltschöpfer für etwas Bösartiges), und der »höchste Gott«, der zur Erlösung von der Welt seinen Sohn gesandt habe. Sie empfanden ganz richtig, daß, wenn man sich schon nicht entschließen könne, den Judengott ganz zu leugnen wie irgendeinen anderen Volksgott, die einzige logische Möglichkeit in der Annahme der Zweigötterei bestehe, einer Art Dualismus nach persischem Vorbild, wobei der Judengott natürlich den Geist der Finsternis vertritt; da aber eine solche Auslegung nichts war als ein maskierter Rückfall ins Heidentum, so konnte die Kirche sie natürlich nicht akzeptieren. Die Marcioniten (und andere) hatten übrigens auch vorgeschlagen, das Alte Testament einfach hinauszuwerfen, aber auch damit drangen sie nicht durch: Jehovah, auch darin ein echter Jude, ließ sich nicht hinauswerfen, und so ist bis zum heutigen Tage die reinste Religionslehre, die jemals in die Welt getreten ist und jemals in die Welt treten wird, verdorben und verwirrt durch das Gespenst eines rabiaten und nachträgerischen alten Beduinenhäuptlings.

Luthers Damaskus

Aber eines Tages erlebte auch Luther sein Damaskus. Nur rief ihm der Heiland nicht zu: »Warum verfolgst du mich?«, sondern: »Warum glaubst du dich von mir verfolgt? Mein Vater ist nicht Jehovah!« Er erkannte, daß der Christengott kein »gerechter« Gott ist, sondern ein barmherziger Gott, und daß der Inhalt des Evangeliums nicht das Gesetz ist, sondern die Gnade.

Es ist erschütternd, zu beobachten, daß Luther in der Zeit seiner inneren Kämpfe sogar eine Art Haß gegen Gott faßte: es gab Augenblicke in seinem Leben, wo er Gott aus der Welt hinwegwünschte. Und in der Tat: was man ganz und aus vollstem Herzen lieben soll, das muß man irgendwann einmal auch inbrünstig gehaßt oder doch einmal heiß und fast hoffnungslos umworben haben; und dies gilt gewiß auch nicht zuletzt von der Frömmigkeit: erwirb, um zu besitzen! Im Grunde war Luthers Glaubenskampf der Kampf gegen das billige Weidebehagen und Kuhglück der in Gott Saturierten, gegen die tiefe Unsittlichkeit, die in der gedankenlosen Unangefochtenheit und trägen Selbstverständlichkeit aller Durchschnittsreligiosität verborgen liegt.

Luters heroische Zeit

Luthers Jugendgeschichte hat einen wahrhaft dramatischen Charakter; sein Mönchsgelübde unter Blitz und Donner, sein Thesenanschlag, die Disputation zu Leipzig, die Verbrennung der Bannbulle, seine Verteidigung auf dem Reichstag zu Worms: das sind große Szenen von welthistorischem Wurf und Gepräge, die in starken und großzügigen Bildern die jeweilige Situation prägnant und unvergeßlich zusammenfassen. Und mit einem überwältigend sicheren Griff, der gleichfalls etwas Dramatisches hat, hat Luther die katholische Kirche gerade an jenem Mißstand gepackt, der nicht nur der aufreizendste und widersinnigste, sondern auch der ostensibelste und einleuchtendste war: am Ablaßhandel. Es hatte sich im Laufe der Zeit eine richtige Börse für Sündenvergebung entwickelt, alles hatte seinen Kurs: Meineid, Schändung, Totschlag, falsches Zeugnis, Unzucht, in Kirchen verübt; Sodomie notierte in Tetzels Instruktion mit zwölf Dukaten, Kirchenraub mit neun, Hexerei mit sechs, Elternmord (merkwürdig wohlfeil) mit vier. Ja man konnte sogar, nicht in der Theorie, wohl aber in der Praxis, für gewisse Sünden vorausbezahlen und sich sozusagen eine Art Ablaßdepot anlegen; und das ganze Geschäft war an große Bankhäuser und Handelsfirmen verpachtet, die mit ganz modernen Mitteln der Reklame und des Kundenfangs arbeiteten: bei einer Verlosung in Bergen op Zoom waren zum Beispiel nebeneinander »köstliche Preise« und Ablässe zu gewinnen. Weiter konnte man die Entwürdigung und Merkantilisierung der Religion nicht treiben, und daß alle diese Usancen mit dem Christentum nichts mehr zu tun hatten, ja dessen offizielle und zynische Verleugnung und Verhöhnung bedeuteten, mußte auch dem einfachsten Kopf in die Augen springen.

Den Höhepunkt der publizistischen Wirksamkeit Luthers bezeichnet das Jahr 1520, wo er die drei kleinen, aber überaus gehaltvollen Schriften »An den christlichen Adel deutscher Nation«, »Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche« und »Von der Freiheit eines Christenmenschen« erscheinen ließ: sie sind von einer Kraft und Tiefe, Gedrängtheit und Fülle, Klarheit und Ordnung, wie er sie später nie wieder erreicht hat. Er lehrt darin mit hinreißender Beredsamkeit, daß jeder Christ wahrhaft geistlichen Standes sei; daß der Papst mitnichten der Herr der Welt sei, denn Christus habe vor Pilatus gesagt: Mein Reich ist nicht von dieser Welt; daß als Sakrament nur gelten könne, was Christus selbst eingesetzt hat, nämlich Taufe, Buße und Abendmahl; daß durch die übrigen angemaßten Sakramente und die päpstlichen Ansprüche auf Weltherrschaft die Kirche unter die Botmäßigkeit einer ihr fremden und feindlichen Macht gelangt sei gleich den Juden in Babylon; daß ein Christenmensch ein ganz freier Herr aller Dinge sei und niemandem Untertan und zugleich ein ganz dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann Untertan: das erste ist er durch den Glauben, das zweite durch die Demut. Dort allein ist ein wahrhaft christliches Leben, wo der Glaube wahrhaft tätig ist durch die Liebe, wo er mit Freudigkeit an das Werk der freiesten Dienstbarkeit geht, in der er den anderen umsonst und freiwillig dient. »Wer mag begreifen den Reichtum und die Herrlichkeit eines Christenlebens, das alle Dinge vermag und hat und keines bedarf, der Sünde und des Todes und der Hölle Herr, zugleich jedoch allen dienstbar und willfährig und nützlich!« Hier ist Luther in die Nähe seiner großen Jugendlehrer, der Mystiker, gelangt, und dies hat ihn auch befähigt, die große Streitfrage des Christentums nach dem Verhältnis des Glaubens zu den Werken, auf die wir noch zurückkommen, mit der größten Reinheit und Einfachheit zu lösen; aber er hat später, durch kleinliche Reibereien und Ränke verbittert, in Arbeitsmühsal und Sektenpolemik verkalkt und vor allem aus Angst, mißverstanden zu werden (einer eines großen Genius unwürdigen Angst), diesen Gipfel wieder verlassen.

Aus: Kulturgeschichte der Neuzeit, Erstes Buch, Sechstes Kapitel

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