Freitag, 1. Juli 2011

Egon Friedell über Franz Schubert

[Carl Maria von] Weber und [Franz] Schubert haben dies gemeinsam, daß sie die echtesten Romantiker und die deutschesten Musiker waren, die sich ersinnen lassen. Aber während Weber auch in Not und Obskurität immer der Baron und Kavalier blieb, war Schubert zeitlebens der Eichendorffsche Taugenichts, der faule Hans vom Dorfe, der seine Freiheit gern mit Armut erkaufte. Und wie der »Taugenichts« war er eigentlich gar nicht faul, sondern sehr fleißig, freilich ohne daß er es selbst wußte: indem er immerzu sang, ein halbes Tausend Lieder!
Ein linkischer bebrillter Dickkopf von Vorstadtlehrer, seine einzige Freude und Welt der »Heurige«; und seit er in die Menschheit getreten ist, weiß sie erst richtig, was ein Lied ist. Wie von den Brüdern Grimm das deutsche Märchen geschaffen, nämlich nicht erfunden, aber zum Kunstwerk erhoben wurde, so hat Schubert das Volkslied geadelt und ebenbürtig neben die höchsten Tonschöpfungen gestellt. Das Lied wird von ihm zumeist nicht mehr strophisch vertont, sondern durchkomponiert, die Begleitung löst sich von der Singstimme und wird fast zur Hauptsache: zwei epochemachende Bereicherungen und Vertiefungen des musikalischen Ausdrucks. Schubert dokumentiert sich unter anderm auch darin als absolutes Genie, daß man bei ihm niemals den Eindruck von etwas Absonderlichem und Außergewöhnlichem hat. Ein genialer Mensch verhält sich nämlich zu den anderen wie das Normalgebilde zu den Mißgeburten: sie sind die »Ausnahmen«; er ist der Kanon. Wenn es in der Welt richtig zuginge, müßten alle Menschen einen ebensolchen Weltblick besitzen wie Bismarck, ein ebensolches Gehirn wie Kant, einen ebensolchen Humor wie Busch, ebenso zu leben verstehen wie Goethe und ebensolche Lieder singen können wie Schubert. An allen diesen Männern ist nichts von »Kunst« zu spüren; niemand kann ihnen irgendwelche Handgriffe abmerken, denn sie haben gar keine angewendet. Wie ein Vogel des Feldes, ein seliges Instrument Gottes ließ Schubert seine Lieder ertönen, eine unscheinbare graue Ackerlerche, aus der niederen Erdfurche aufsteigend, für einen kurzen Sommer in die Welt gesandt, um zu singen.

Aus: Kulturgeschichte der Neuzeit, Viertes Buch, Erstes Kapitel (1927-1931)
Kompletter Text des Kapitels bei Gutenberg-DE

1 Kommentar:

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