Egon Friedell: Genie und Zeitalter


Der Wiener Kabarettist und Schriftsteller Egon Friedell (1878-1938) veröffentlichte 1927-1931 eine »Kulturgeschichte der Neuzeit« in Form eines 1500seitigen historischen Essays. Eingestreut darin sind zahlreiche faszinierend lebhafte Schilderungen von Persönlichkeiten, von denen ich für diese Website einige herausgegriffen habe. Manche musste ich leider kürzen. 
 In der Einleitung zu seinem Lebenswerk entwickelt Friedell drei Thesen über das Genie und das Zeitalter, die in Kurzform lauten: Im Genie verkörpert sich das Zeitalter. Das Genie prägt das Zeitalter. Das Genie steht völlig außerhalb seines Zeitalters. Das ist ein Widerspruch? Ja eben! Genau deshalb ist es so spannend zu lesen.

Leider war Friedell ebenso wie sein Vorbild Jacob Burckhardt völlig auf die Darstellung von Männern fixiert und deshalb nicht in der Lage, geniale Frauen zu erkennen. Damit einher ging ein höchst mangelhaftes Verständnis von Revolutionen und revolutionären Strömungen. Das trübt jedoch in keiner Weise den Genuss seiner prächtigen, farbenfrohen Bilder und des Gewinns, den Leserin und Leser daraus ziehen können.
Jens Jürgen Korff, im Juni 2011

Seelische Kostümgeschichte

Unser Werk macht den Versuch, einen geistig-sittlichen Bilderbogen, eine seelische Kostümgeschichte der letzten sechs Jahrhunderte zu entwerfen und zugleich die platonische Idee jedes Zeitalters zu zeigen, den Gedanken, der es innerlich trieb und bewegte, der seine Seele war. Dieser Zeitgedanke ist das Organisierende, das Schöpferische, das einzig Wahre in jedem Zeitalter, obgleich auch er nur selten in der Wirklichkeit rein erscheint; vielmehr ist das Zeitalter das Prisma, das ihn in einen vielfarbigen Regenbogen von Symbolen zerlegt: nur hier und da tritt der Glücksfall ein, daß es einen großen Philosophen hervor­bringt, der diese Strahlen in dem Brennspiegel seines Geistes wieder sammelt.


Und dies führt uns zu dem eigentlichen Schlüssel jedes Zeitalters. Wir erblicken ihn in den großen Männern, jenen sonderbaren Erscheinungen, die Carlyle Helden genannt hat. Man könnte sie auch ebensogut Dichter nennen, wenn man diesen Begriff nicht einseitig auf Personen einschränkt, die mit Tinte und Feder hantieren, sondern sich vor Augen hält, daß man mit allem dichten kann, wenn man nur genug Schöpferkraft und Phantasie besitzt, ja daß die großen Helden und Heiligen, die in ihren Taten und Leiden mit dem Leben gedichtet haben, sogar höher stehen als die Dichter des Worts. Nach Carlyles Überzeugung ist die Form, in der der große Mann erscheint, völlig gleichgültig; die Hauptsache ist, daß er da ist: »Ich muß gestehen, daß ich von keinem großen Manne weiß, der nicht alle Menschen­gattungen hätte verkörpern können ... Ist eine große Seele gegeben, die sich dem göttlichen Sinn des Daseins geöffnet hat, so ist damit auch ein Mensch gegeben, der die Gabe besitzt, davon zu reden und zu singen, dafür zu fechten und zu streiten, groß, siegreich und dauerhaft; dann ist ein Held gegeben: – seine äußere Gestalt hängt von der Zeit und der Umgebung ab, die er gerade vorfindet.« In der Geschichte gibt es nur zwei wirkliche Weltwunder: den Zeitgeist mit seinen märchenhaften Energien und das Genie mit seinen magischen Wirkungen. Der geniale Mensch ist das große Absurdissimum. Er ist ein Absurdissimum wegen seiner Normalität. Er ist so, wie alle sein sollten: eine vollkommene Gleichung von Zweck und Mittel, Aufgabe und Leistung. Er ist so paradox, etwas zu tun, was sonst niemand tut: er erfüllt seine Bestimmung.


Zwischen Genie und Zeitalter besteht nun eine komplizierte und schwer entzifferbare Verrechnung.


Das Genie ist ein Produkt des Zeitalters

Ein Zeitalter, das nicht seinen Helden findet, ist pathologisch: Seine Seele ist unterernährt und leidet gleichsam an »chronischer Dyspnoë«. Kaum hat es diesen Menschen, der alles ausspricht, was es braucht, so strömt plötzlich neuer Sauerstoff in seinen Organismus, die Dyspnoë verschwindet, die Blutzirkulation reguliert sich, und es ist gesund. Die Genies sind die wenigen Menschen in jedem Zeitalter, die reden können. Die anderen sind stumm, oder sie stammeln. Ohne sie wüßten wir nichts von vergangenen Zeiten: wir hätten bloß fremde Hieroglyphen, die uns verwirren und enttäuschen. Wir brauchen einen Schlüssel für diese Geheimschrift. Gerhart Hauptmann hat einmal den Dichter mit einer Windesharfe verglichen, die jeder Lufthauch zum Erklingen bringt. Halten wir dieses Gleichnis fest, so könnten wir sagen: im Grund ist jeder Mensch ein solches Instrument mit empfindlichen Saiten, aber bei den meisten bringt der Stoß der Ereignisse die Saiten bloß zum Erzittern, und nur beim Dichter kommt es zum Klang, den jedermann hören und erfassen kann.


Damit ein Abschnitt der menschlichen Geistesgeschichte in einem haltbaren Bilde fortlebe: dazu scheint immer nur ein einziger Mensch nötig zu sein, aber dieser eine ist unerläßlich. So würde zum Beispiel für die griechische Aufklärung Sokrates, für die französische Aufklärung Voltaire, für die deutsche Aufklärung Lessing, für die englische Renaissance Shakespeare, für unsere Zeit Nietzsche genügen. In solchen Männern objektiviert sich das ganze Zeitalter wie in einem verdeutlichenden Querschnitt, der jedermann zugänglich ist. Der Genius ist nichts anderes als die bündige Formel, das gedrängte Kompendium, der handliche Leitfaden, in dem knapp und konzis, verständlich und übersichtlich die Wünsche und Werke aller Zeitgenossen zusammengefaßt sind. Er ist der starke Extrakt, das klare Destillat, die scharfe Essenz aus ihnen; er ist aus ihnen gemacht. Nähme man sie fort, so bliebe nichts von ihm zurück, er würde sich in Luft auflösen. Der große Mann ist ganz und gar das Geschöpf seiner Zeit; und je größer er ist, desto mehr ist er das Geschöpf seiner Zeit. Dies ist unsere erste These über das Wesen des Genies.

Das Zeitalter ist ein Produkt des Genies

Aber wer sind denn diese Zeitgenossen? Wer macht sie zu Zeitgenossen, zu Angehörigen eines besonde­ren, deutlich abgegrenzten Geschichtsabschnittes, die ihr spezifisches Weltgefühl, ihre bestimmte Lebensluft, kurz ihren eigenen Stil haben? Niemand anders als der »Dichter«. Er prägt ihre Lebensform, er schneidet das Klischee, nach dem sie alle gedruckt werden, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht. Er vertausendfältigt sich auf mysteriöse Weise. Man geht, steht, sitzt, denkt, haßt, liebt nach seinen Angaben. Er verändert unsere Höflichkeits-bezeugungen, unser Naturgefühl; unsere Haartracht, unsere Religiosität; unsere Interpunktion, unsere Erotik; das Heiligste und das Trivialste: alles. Sein ganzes Zeitalter ist infiziert von ihm. Er dringt unaufhaltsam in unser Blut, spaltet unsere Moleküle, schafft tyrannisch neue Verbindungen. Wir reden seine Sprache, wir gebrauchen seine Satzstellungen, eine flüchtig hingeworfene Redensart aus seinem Munde wird zur einigenden Parole, die die Menschen sich durch die Nacht zurufen. Die Straßen und Wälder, die Kirchen und Ballsäle bevölkern sich plötzlich, niemand weiß wieso, mit zahllosen verkleinerten Kopien von Werther, Byron, Napoleon, Oblomow, Hjalmar. Die Wiesen werden andersfarbig, die Bäume und Wolken werden andersförmig, die Blicke, die Gesten, die Stimmen der Menschen bekommen einen neuen Akzent. Die Frauen werden zu Preziösen nach dem Rezept Molières und zu Kanaillen nach der Vision Strindbergs; breithüftig und vollbusig, weil Rubens es sich vor seiner einsamen Staffelei so ausgedacht hat, und schmal und anämisch, weil Rossetti und Burne-Jones dieses Bild von ihnen im Kopfe trugen. Es ist gar nicht richtig, daß der Künstler die Realität abschildert, ganz im Gegenteil: die Realität läuft ihm nach. »Es ist paradox«, sagt Wilde, »aber darum nicht minder wahr, daß das Leben die Kunst weit mehr nachahmt als die Kunst das Leben.«


Niemand vermag diesen Zauberern zu widerstehen. Sie beflügeln und lähmen, sie berauschen und ernüchtern. In ihrem Besitz sind alle Heilmittel und Toxine der Welt. Sie lassen Leben aufsprießen, wohin sie kommen, alles wird durch sie kräftiger, gesünder, »kommt zu sich«: ja dies ist sogar die höchste Wohltat, die sie den Menschen erweisen, indem sie bewirken, daß diese zu sich selbst kommen, sich selbst erkennen, sobald sie mit ihnen in Berührung treten. Sie schaffen aber auch Krankheit und Tod. Sie lösen in vielen die latente Narrheit aus, die sonst vielleicht immer geschlummert hätte. Auch erregen sie Kriege, Revolutionen, soziale Erdbeben. Sie köpfen Könige, beschicken Schlachtfelder, stacheln Nationen zum Zweikampf. Ein gut gelaunter älterer Herr, namens Sokrates, vertreibt sich die Zeit mit Aphorismen, ein ebensogut gelaunter Landsmann, namens Plato, macht daraus eine Reihe amüsanter Dialoge, und Bibliotheken schichten sich auf, Bibliotheken werden auf dem Scheiterhaufen verbrannt, Bibliotheken werden als Makulatur verbrannt, neue Bibliotheken werden geschrieben und hunderttausend Köpfe und Mägen leben von dem Namen Plato. Ein exaltierter Journalist, namens Rousseau, schreibt ein paar bizarre Flugschriften, und sechs Jahre lang zerfleischt sich ein hochbegabtes Volk. Ein weltfremder und von aller Welt gemiedener Stubengelehrter, namens Marx, schreibt ein paar dicke und unverständliche philosophische Bände, und ein Riesenreich ändert seine gesamten Existenzbedingungen von Grund auf.


Kurz: die Zeit ist ganz und gar die Schöpfung des großen Mannes, und je mehr sie es ist, desto voller und reifer erfüllt sie ihre Bestimmung, desto größer ist sie. Dies ist unsere zweite These über das Wesen des Genies.


Genie und Zeitalter sind inkommensurabel

Aber was ist denn der Genius? Ein exotisches Monstrum, eine Fleisch gewordene Paradoxie, ein Arsenal von Extravaganzen, Grillen, Perversitäten, ein Narr wie alle anderen, ja noch mehr als alle anderen, weil er mehr Mensch ist als sie, ein pathologisches Original, dem ganzen dunkeln Lebensgewimmel da unten im tiefsten fremd, aber auch seinesgleichen fremd, ja sich selber fremd, ohne die Möglichkeit irgendeiner Brücke zu seiner Umwelt. Der große Mann ist der große Solitär: was seine Größe ausmacht, ist gerade dies, daß er ein Unikum, eine Psychose, eine völlig beziehungslose Einmaligkeit darstellt. Er hat mit seiner Zeit nichts zu schaffen und sie nichts mit ihm. Dies ist unsere dritte These über das Wesen des Genies.

Man könnte nun vielleicht finden, daß diese drei Thesen sich widersprechen. Aber wenn sie sich nicht widersprächen, so wäre es ziemlich überflüssig gewesen, diese Bände, die im wesentlichen nichts sind als eine Schilderung der einzelnen Kulturzeitalter und ihrer Helden, überhaupt zu schreiben. Und für den, der die Aufgabe des menschlichen Denkens nicht im Darstellen, sondern im Abstellen von Widersprüchen erblickt, ist es andererseits gänzlich überflüssig, diese Bände zu lesen.