Freitag, 11. Oktober 2019

Egon Friedell über Otto von Bismarck


Die beiden Philosophen

Das Wort vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen solle, hat, übermäßig und an falscher Stelle zitiert, nicht wenig zu den Antipathien beigetragen, die Deutschland im Weltkrieg entgegengebracht wurden...  Aus dem trüben Nebel jener Tage erhoben sich zwei scharfgekantete leuchtende Profile: die beiden Philosophen Bismarck und Schopenhauer.
(…)

Bismarck und Friedrich der Große

Auch Bismarck wurzelte mit der einen Hälfte seines Wesens im Vormärz, ja sogar mit gewissen Zügen im achtzehnten Jahrhundert.
In seiner Ära hatte ein Politiker nur die Wahl, liberal oder reaktionär, Demokrat oder Absolutist, positivistisch oder orthodox zu sein; Bismarck war nichts von alledem, weil er alles zusammen war. Er war nämlich ein Seigneur des Rokokos und daher vertrugen sich in seiner Seele der Legitimist und der Revolutionär, der Freigeist und der Pietist, der Citoyen und der Feudale auf eine Weise, wie es in seiner Zeit keinem anderen mehr möglich war. Doch war dies, wie gesagt, nur die eine Hälfte seines Wesens, die andere gehörte weder der Vergangenheit noch der Gegenwart, sondern der Zukunft an: in ihm lebte bereits der Gedanke einer demokratischen Diktatur und eines paneuropäischen Staatensystems, der unser Jahrhundert beherrscht. Daß er als geheimnisvolle schöpferische Janusgestalt an der Wegscheide zweier Zeitalter stand und daß sein ganzes Leben eine Art Kampf mit dem Teufel (auch mit dem eigenen) war, ist sein Gemeinsames mit Luther; die stärkste Verwandtschaft aber hatte er mit Friedrich dem Großen. Fast alle Züge, die wir an diesem hervorgehoben haben, finden sich bei ihm wieder. Zunächst jene paradoxe Mischung aus Realismus und Idealismus, aus anpassungskräftiger Elastizität und unerschütterlicher Prinzipientreue, die den Preußenkönig zu einem so fruchtbaren Staatsmann gemacht hat. Sodann das ebenso paradoxe Verhältnis, das beide zur Wahrheit hatten: scheinbar nämlich haben sie bisweilen gelogen (Bismarck übrigens höchst selten); aber dies war nur ihr Berufsjargon, im Innern waren sie die aufrichtigsten Menschen, die sich denken lassen. Man kann nämlich sein ganzes Lebens lang äußerlich stets die Wahrheit gesprochen haben und dabei die Seele eines gottverdammten Heuchlers, Spiegelfechters und Falschmünzers besitzen; aber auch das Umgekehrte ist denkbar. Wer nur einige Kapitel der »Gedanken und Erinnerungen« gelesen hat und nicht spürt, daß hinter ihnen ein Elementargeist steht, dessen Grundpathos der leidenschaftliche Drang war, allen Menschen, Dingen und Ereignissen ihr wahres Gesicht abzulesen, aber auch ihnen ein wahres Gesicht zu zeigen, daß sich in ihnen eine kristallene Seele spiegelt, offen und klar und freilich auch unergründlich tief wie ein Bergsee: der hat überhaupt kein Organ für Wahrheit oder will absichtlich nicht sehen. Und hierin stand Bismarck noch höher als Friedrich der Große, wie er denn auch, was zweifellos damit zusammenhängt, der noch viel größere Schriftsteller war. Seine betont geistreiche, stets leicht ironische, in apart gefaßten Epigrammen, funkelnd geschliffenen Antithesen und zitatreifen Aperçus sich bewegende Betrachtungsart ist ganz dix-huitième und hat, so paradox dies angesichts seines Vulgärbilds klingen mag, ebenso wie die Friedrichs des Großen etwas Französisches. Gänzlich unfranzösisch hingegen waren seine tiefe Religiosität, sein Gemüt und sein Humor, mit welch letzterer Eigenschaft es wiederum zusammenhängt, daß er von allen Personen, die je auf dieser Erde Macht besessen haben, eine der uneitelsten war. Wir konnten dies auch an Friedrich dem Großen konstatieren und müssen hinzufügen, daß Bismarck ebenfalls kein ernster Mensch war. Statt zahlloser Belege, die sich hierfür vorbringen ließen, sei ein einziger angeführt, der mehr beweist als alle Anekdoten, nämlich eine Stelle aus dem Tagebuch des späteren Kaisers Friedrich. Dieser, Bismarck, Roon und Moltke waren am 15. Juli 1870 dem König Wilhelm, der aus Ems nach Berlin kam, bis Brandenburg entgegengefahren. Unterwegs hielt Bismarck dem König einen zusammenfassenden Vortrag über die europäische Lage, und der Kronprinz fügt hinzu: »mit großer Klarheit und würdigem Ernst, frei von seinen sonst gewöhnlich beliebten Scherzen.« Man denke sich in die Situation: zwischen Emser Depesche und allgemeiner Mobilmachung entwickelt der Kanzler des Norddeutschen Bundes dem König, dem Kronprinzen, dem Kriegsminister und dem Chef des Generalstabs die maßgebenden Gesichtspunkte, bleibt dabei vollkommen ernst, macht nicht einen einzigen Witz, und der Kronprinz notiert diese auffallende Tatsache in sein Tagebuch.
Wir könnten die Parallele noch bis in viele Details fortführen. Besonders bemerkenswert scheint mir, daß auch Bismarck, obgleich so oft das Gegenteil behauptet worden ist, kein Militarist war, indem er den Krieg ebenfalls nur als »Brechmittel« betrachtete, allerdings aber, wenn er ihn für unvermeidlich ansah, im günstigsten Zeitpunkt zu führen suchte, wodurch er scheinbar zum Angreifer wurde; und daß er auch kein Monarchist war. Er war nämlich Royalist, was durchaus nicht dasselbe ist: seine Anhänglichkeit an die Dynastie wurzelte in den feudalen Traditionen seines Hauses und seine Stellung zu den Hohenzollern hatte immer etwas von unterirdischer Fronde. Am überraschendsten aber ist es, daß ihm mit Friedrich dem Großen sogar die »physiologische Minderwertigkeit« gemeinsam war. Er war durchaus nicht der steinerne Roland, als den das Volk sich ihn denkt, sondern der Typus des Dekadenten; vor allem darin ein geradezu klassisches Exemplar des Neurotikers, daß sich psychische Attacken bei ihm regelmäßig in physische umsetzten: zum Beispiel Ärger und Enttäuschung in Trigeminalschmerzen. Kein Maléquilibré des Fin de siècle übertraf ihn an Reizbarkeit und Labilität des Nervensystems. Ein »eiserner Kanzler«, der Weinkrämpfe bekommt, wenn er seinen Willen nicht durchsetzen kann, ist doch eine recht sonderbare Erscheinung, in ihrer Art ebenso sonderbar wie ein »deutscher Heldenkönig«, der zwischen zwei Schlachten französische Alexandriner dichtet. Und schließlich haben die beiden auf dem Wege zum Tode und nach dem Tode ganz ähnliche Schicksale gehabt, indem sie sich in ihren letzten Lebensjahren bis zur Unwirklichkeit vergeistigten und von der Nachwelt bis zum heutigen Tage wild umstritten werden, bald wie Halbgötter verehrt, bald als Bösewichter, ja Verbrecher gebrandmarkt.

Der letzte Held

Man kann sagen, daß die Natur alle ihre Geschöpfe eigentlich nur hervorbringe, um jedesmal zu zeigen, was ein einzelnes Organ zu leisten vermag, wenn es bis an die äußersten Grenzen seiner Raum- und Kraftentfaltung gelangt. Der Tiger ist ein ganz reißendes Gebiß, der Elefant nichts als ein riesiger Greif- und Tastrüssel, das Rind ein wandelnder Kau- und Verdaumagen, der Hund eine Witternase auf vier Füßen. Beim Menschengeschlecht wiederholt sich dieser Vorgang auf geistigem Gebiet in der Erschaffung des Genies. Jedes ist die staunenswerte Hypertrophie einer seelischen Potenz. Shakespeare ist ganz Phantasie, Goethe ganz Anschauung, ein ungeheures inneres Auge, bei Kant war, wie ausführlich gezeigt wurde, die Fähigkeit, die zu stupender Überlebensgröße entfaltet war, der theoretische Verstand, bei Bismarck: der praktische Verstand. Was darunter zu verstehen ist, sagt ein Ausspruch Schopenhauers: »Der Begabte denkt rascher und richtiger als die übrigen; das Genie hingegen schaut eine andere Welt an als sie alle, wiewohl nur indem es in die auch ihnen vorliegende tiefer hineinschaut, weil sie in seinem Kopfe sich objektiver, mithin deutlicher und reiner sich darstellt.« Und noch einfacher drückt Carlyle denselben Sachverhalt aus: »Mein grober alter Schullehrer fragte immer, wenn man ihm einen neuen Jungen brachte: Aber sind Sie auch sicher, daß er kein Dummkopf ist? Nun, dieselbe Frage könnte man an jeden Menschen in jeder Lebenstätigkeit stellen und sie als die einzige Untersuchung ansehen, die nötig ist: sind Sie sicher, daß er kein Dummkopf ist? Denn man muß in der Tat sagen: die Summe von Anschauung, die in einem Menschen lebt, ist der genaue Gradmesser seiner Menschlichkeit. Zu jedem Menschen sagen wir zu allererst: sieh! Kannst du sehen, so ist in Tun und Denken überall Hoffnung für dich.« Hätten alle Menschen einen ähnlich reinen, klaren, natürlichen Verstand, wie ihn Bismarck besaß, so wären sie zwar keineswegs frei von Untugenden und Irrtümern (denn Bismarck war weder ein unfehlbarer Papst noch ein fleckenloser Heiliger), aber ihre Untugenden und Irrtümer wären für sie und die anderen unschädlich, nämlich in Weisheit, Verstehen und Geist aufgelöst.
Nun, diesen Verstand hat wohl noch niemand Bismarck abgesprochen; aber viele behaupten, daß er dabei »unmoralisch« war. Als ob sich hoher Verstand und Unmoral vereinigen ließen! Ein Bodenspekulant, ein Bankanwalt, ein Theateragent mag ein Gauner und dabei in seinem Fach »gescheit« sein, aus dem sehr einfachen Grunde, weil sein ganzes Gewerbe eine Gaunerei ist; aber schon ein Kunstgärtner, ein Brillenschleifer, ein Orgelbauer muß eine gewisse Sittlichkeit besitzen. Um ein Ding zu können, muß man es erkennen, um es zu erkennen, muß man in sein Herz blicken, und das heißt: in einer moralischen Beziehung zu ihm stehen. Der Feige, der Selbstsüchtige, der Hochmütige wird nie das Vertrauen eines Dings gewinnen, durch welches allein er dessen Wahrheit erschließen kann.
Man kommt bei längerer und genauerer Betrachtung der Menschen immer mehr zu der überraschenden Erkenntnis, daß sie sich in ihren Prinzipien gar nicht so sehr voneinander unterscheiden. Fast alle wissen, im allgemeinen und im besonderen, ziemlich gut, was das »Rechte« ist; aber sie tun es nicht. Erkennen und Handeln sind bei ihnen zwei völlig getrennte Ressorts, zwei Kammern, die fast nie miteinander kommunizieren. Und zwar liegt der Fall nicht so einfach, daß der Mensch bewußt seine Grundsätze verleugnet. Nein, er tut es mit bestem Gewissen, er hat sie einfach, wenn er handelt, vergessen und ist daher sehr erstaunt, wenn man ihm vorhält, daß er doch so ganz anders sei, als er immer predige. Es geht ihm wie dem Besitzer eines Patents, das keinen Verwirklicher findet. Die Idee, das Modell, das Prinzip allein ist da. Fast alle Menschen sind theoretisch im Besitz des Geheimnisses, wie sie zu leben hätten, aber die großartige und einzigartige Erfindung, die jeder von ihnen verkörpert, wird fast nie realisiert. Dies eben war der große und neue Sinn des Christentums, daß es die Menschen lehrte: das Wesentliche ist nicht das Wissen, sondern das Sein. Ein Mensch, der nur einige wenige Wahrheiten kennt, sie aber lebt, wird ein göttliches Leben führen; ein Mensch, der alle Weisheit der Welt besitzt, aber bloß in seinem Kopf, als totes Programm, kann noch immer ganz und gar dem Teufel verfallen sein.
In diesem Sinne war Bismarck ein großer Christ. Er hatte kühne und weise Gedanken; aber die hatten andere auch. Er aber hat sie mit seinem wilden, starken Junkerblut gefüllt und gelebt, der letzte Held, den die Neuzeit erblickt hat.

Kulturgeschichte der Neuzeit, 4. Buch, 3. Kapitel. Vollständig auf gutenberg.spiegel.de

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