Die beiden Philosophen
Das Wort vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen solle,
hat, übermäßig und an falscher Stelle zitiert, nicht wenig zu den Antipathien
beigetragen, die Deutschland im Weltkrieg entgegengebracht wurden... Aus dem trüben Nebel jener Tage erhoben
sich zwei scharfgekantete leuchtende Profile: die beiden Philosophen Bismarck
und Schopenhauer.
(…)
Bismarck und Friedrich der Große
Auch Bismarck wurzelte mit der einen Hälfte seines Wesens im
Vormärz, ja sogar mit gewissen Zügen im achtzehnten Jahrhundert.
In seiner Ära
hatte ein Politiker nur die Wahl, liberal oder reaktionär, Demokrat oder
Absolutist, positivistisch oder orthodox zu sein; Bismarck war nichts von
alledem, weil er alles zusammen war. Er war nämlich ein Seigneur des Rokokos
und daher vertrugen sich in seiner Seele der Legitimist und der Revolutionär,
der Freigeist und der Pietist, der Citoyen und der Feudale auf eine Weise, wie
es in seiner Zeit keinem anderen mehr möglich war. Doch war dies, wie gesagt,
nur die eine Hälfte seines Wesens, die andere gehörte weder der Vergangenheit
noch der Gegenwart, sondern der Zukunft an: in ihm lebte bereits der Gedanke
einer demokratischen Diktatur und eines paneuropäischen Staatensystems, der
unser Jahrhundert beherrscht. Daß er als geheimnisvolle schöpferische
Janusgestalt an der Wegscheide zweier Zeitalter stand und daß sein ganzes Leben
eine Art Kampf mit dem Teufel (auch mit dem eigenen) war, ist sein Gemeinsames
mit Luther; die stärkste Verwandtschaft aber hatte er mit Friedrich dem Großen.
Fast alle Züge, die wir an diesem hervorgehoben haben, finden sich bei ihm
wieder. Zunächst jene paradoxe Mischung aus Realismus und Idealismus, aus
anpassungskräftiger Elastizität und unerschütterlicher Prinzipientreue, die den
Preußenkönig zu einem so fruchtbaren Staatsmann gemacht hat. Sodann das ebenso
paradoxe Verhältnis, das beide zur Wahrheit hatten: scheinbar nämlich haben sie
bisweilen gelogen (Bismarck übrigens höchst selten); aber dies war nur ihr
Berufsjargon, im Innern waren sie die aufrichtigsten Menschen, die sich denken
lassen. Man kann nämlich sein ganzes Lebens lang äußerlich stets die Wahrheit
gesprochen haben und dabei die Seele eines gottverdammten Heuchlers,
Spiegelfechters und Falschmünzers besitzen; aber auch das Umgekehrte ist
denkbar. Wer nur einige Kapitel der »Gedanken und Erinnerungen« gelesen hat und
nicht spürt, daß hinter ihnen ein Elementargeist steht, dessen Grundpathos der
leidenschaftliche Drang war, allen Menschen, Dingen und Ereignissen ihr wahres
Gesicht abzulesen, aber auch ihnen ein wahres Gesicht zu zeigen, daß sich in
ihnen eine kristallene Seele spiegelt, offen und klar und freilich auch
unergründlich tief wie ein Bergsee: der hat überhaupt kein Organ für Wahrheit
oder will absichtlich nicht sehen. Und hierin stand Bismarck noch höher als
Friedrich der Große, wie er denn auch, was zweifellos damit zusammenhängt, der
noch viel größere Schriftsteller war. Seine betont geistreiche, stets leicht
ironische, in apart gefaßten Epigrammen, funkelnd geschliffenen Antithesen und
zitatreifen Aperçus sich bewegende Betrachtungsart ist ganz dix-huitième und
hat, so paradox dies angesichts seines Vulgärbilds klingen mag, ebenso wie die
Friedrichs des Großen etwas Französisches. Gänzlich unfranzösisch hingegen
waren seine tiefe Religiosität, sein Gemüt und sein Humor, mit welch letzterer
Eigenschaft es wiederum zusammenhängt, daß er von allen Personen, die je auf
dieser Erde Macht besessen haben, eine der uneitelsten war. Wir konnten dies
auch an Friedrich dem Großen konstatieren und müssen hinzufügen, daß Bismarck
ebenfalls kein ernster Mensch war. Statt zahlloser Belege, die sich hierfür
vorbringen ließen, sei ein einziger angeführt, der mehr beweist als alle
Anekdoten, nämlich eine Stelle aus dem Tagebuch des späteren Kaisers Friedrich.
Dieser, Bismarck, Roon und Moltke waren am 15. Juli 1870 dem König Wilhelm, der
aus Ems nach Berlin kam, bis Brandenburg entgegengefahren. Unterwegs hielt
Bismarck dem König einen zusammenfassenden Vortrag über die europäische Lage, und
der Kronprinz fügt hinzu: »mit großer Klarheit und würdigem Ernst, frei von
seinen sonst gewöhnlich beliebten Scherzen.« Man denke sich in die Situation:
zwischen Emser Depesche und allgemeiner Mobilmachung entwickelt der Kanzler des
Norddeutschen Bundes dem König, dem Kronprinzen, dem Kriegsminister und dem
Chef des Generalstabs die maßgebenden Gesichtspunkte, bleibt dabei vollkommen
ernst, macht nicht einen einzigen Witz, und der Kronprinz notiert diese
auffallende Tatsache in sein Tagebuch.
Wir könnten die Parallele noch bis in viele Details
fortführen. Besonders bemerkenswert scheint mir, daß auch Bismarck, obgleich so
oft das Gegenteil behauptet worden ist, kein Militarist war, indem er den Krieg
ebenfalls nur als »Brechmittel« betrachtete, allerdings aber, wenn er ihn für
unvermeidlich ansah, im günstigsten Zeitpunkt zu führen suchte, wodurch er
scheinbar zum Angreifer wurde; und daß er auch kein Monarchist war. Er war
nämlich Royalist, was durchaus nicht dasselbe ist: seine Anhänglichkeit an die
Dynastie wurzelte in den feudalen Traditionen seines Hauses und seine Stellung
zu den Hohenzollern hatte immer etwas von unterirdischer Fronde. Am
überraschendsten aber ist es, daß ihm mit Friedrich dem Großen sogar die
»physiologische Minderwertigkeit« gemeinsam war. Er war durchaus nicht der
steinerne Roland, als den das Volk sich ihn denkt, sondern der Typus des
Dekadenten; vor allem darin ein geradezu klassisches Exemplar des Neurotikers,
daß sich psychische Attacken bei ihm regelmäßig in physische umsetzten: zum
Beispiel Ärger und Enttäuschung in Trigeminalschmerzen. Kein Maléquilibré des
Fin de siècle übertraf ihn an Reizbarkeit und Labilität des Nervensystems. Ein
»eiserner Kanzler«, der Weinkrämpfe bekommt, wenn er seinen Willen nicht
durchsetzen kann, ist doch eine recht sonderbare Erscheinung, in ihrer Art
ebenso sonderbar wie ein »deutscher Heldenkönig«, der zwischen zwei Schlachten
französische Alexandriner dichtet. Und schließlich haben die beiden auf dem
Wege zum Tode und nach dem Tode ganz ähnliche Schicksale gehabt, indem sie sich
in ihren letzten Lebensjahren bis zur Unwirklichkeit vergeistigten und von der
Nachwelt bis zum heutigen Tage wild umstritten werden, bald wie Halbgötter
verehrt, bald als Bösewichter, ja Verbrecher gebrandmarkt.
Der letzte Held
Man kann sagen, daß die Natur alle ihre Geschöpfe eigentlich
nur hervorbringe, um jedesmal zu zeigen, was ein einzelnes Organ zu leisten
vermag, wenn es bis an die äußersten Grenzen seiner Raum- und Kraftentfaltung
gelangt. Der Tiger ist ein ganz reißendes Gebiß, der Elefant nichts als ein
riesiger Greif- und Tastrüssel, das Rind ein wandelnder Kau- und Verdaumagen,
der Hund eine Witternase auf vier Füßen. Beim Menschengeschlecht wiederholt
sich dieser Vorgang auf geistigem Gebiet in der Erschaffung des Genies. Jedes
ist die staunenswerte Hypertrophie einer seelischen Potenz. Shakespeare ist
ganz Phantasie, Goethe ganz Anschauung, ein ungeheures inneres Auge, bei Kant
war, wie ausführlich gezeigt wurde, die Fähigkeit, die zu stupender
Überlebensgröße entfaltet war, der theoretische Verstand, bei Bismarck: der
praktische Verstand. Was darunter zu verstehen ist, sagt ein Ausspruch
Schopenhauers: »Der Begabte denkt rascher und richtiger als die übrigen; das
Genie hingegen schaut eine andere Welt an als sie alle, wiewohl nur indem es in
die auch ihnen vorliegende tiefer hineinschaut, weil sie in seinem Kopfe sich
objektiver, mithin deutlicher und reiner sich darstellt.« Und noch einfacher
drückt Carlyle denselben Sachverhalt aus: »Mein grober alter Schullehrer fragte
immer, wenn man ihm einen neuen Jungen brachte: Aber sind Sie auch sicher, daß
er kein Dummkopf ist? Nun, dieselbe Frage könnte man an jeden Menschen in jeder
Lebenstätigkeit stellen und sie als die einzige Untersuchung ansehen, die nötig
ist: sind Sie sicher, daß er kein Dummkopf ist? Denn man muß in der Tat sagen:
die Summe von Anschauung, die in einem Menschen lebt, ist der genaue Gradmesser
seiner Menschlichkeit. Zu jedem Menschen sagen wir zu allererst: sieh! Kannst
du sehen, so ist in Tun und Denken überall Hoffnung für dich.« Hätten alle
Menschen einen ähnlich reinen, klaren, natürlichen Verstand, wie ihn Bismarck
besaß, so wären sie zwar keineswegs frei von Untugenden und Irrtümern (denn
Bismarck war weder ein unfehlbarer Papst noch ein fleckenloser Heiliger), aber
ihre Untugenden und Irrtümer wären für sie und die anderen unschädlich, nämlich
in Weisheit, Verstehen und Geist aufgelöst.
Nun, diesen Verstand hat wohl noch niemand Bismarck
abgesprochen; aber viele behaupten, daß er dabei »unmoralisch« war. Als ob sich
hoher Verstand und Unmoral vereinigen ließen! Ein Bodenspekulant, ein
Bankanwalt, ein Theateragent mag ein Gauner und dabei in seinem Fach »gescheit«
sein, aus dem sehr einfachen Grunde, weil sein ganzes Gewerbe eine Gaunerei ist;
aber schon ein Kunstgärtner, ein Brillenschleifer, ein Orgelbauer muß eine
gewisse Sittlichkeit besitzen. Um ein Ding zu können, muß man es erkennen, um
es zu erkennen, muß man in sein Herz blicken, und das heißt: in einer
moralischen Beziehung zu ihm stehen. Der Feige, der Selbstsüchtige, der
Hochmütige wird nie das Vertrauen eines Dings gewinnen, durch welches allein er
dessen Wahrheit erschließen kann.
Man kommt bei längerer und genauerer Betrachtung der
Menschen immer mehr zu der überraschenden Erkenntnis, daß sie sich in ihren
Prinzipien gar nicht so sehr voneinander unterscheiden. Fast alle wissen, im
allgemeinen und im besonderen, ziemlich gut, was das »Rechte« ist; aber sie tun
es nicht. Erkennen und Handeln sind bei ihnen zwei völlig getrennte Ressorts,
zwei Kammern, die fast nie miteinander kommunizieren. Und zwar liegt der Fall
nicht so einfach, daß der Mensch bewußt seine Grundsätze verleugnet. Nein, er
tut es mit bestem Gewissen, er hat sie einfach, wenn er handelt, vergessen und
ist daher sehr erstaunt, wenn man ihm vorhält, daß er doch so ganz anders sei,
als er immer predige. Es geht ihm wie dem Besitzer eines Patents, das keinen
Verwirklicher findet. Die Idee, das Modell, das Prinzip allein ist da. Fast
alle Menschen sind theoretisch im Besitz des Geheimnisses, wie sie zu leben
hätten, aber die großartige und einzigartige Erfindung, die jeder von ihnen
verkörpert, wird fast nie realisiert. Dies eben war der große und neue Sinn des
Christentums, daß es die Menschen lehrte: das Wesentliche ist nicht das Wissen,
sondern das Sein. Ein Mensch, der nur einige wenige
Wahrheiten kennt, sie aber lebt, wird ein göttliches Leben führen; ein Mensch,
der alle Weisheit der Welt besitzt, aber bloß in seinem Kopf, als totes
Programm, kann noch immer ganz und gar dem Teufel verfallen sein.
In diesem Sinne war Bismarck ein großer Christ. Er hatte
kühne und weise Gedanken; aber die hatten andere auch. Er aber hat sie mit
seinem wilden, starken Junkerblut gefüllt und gelebt, der letzte Held, den die
Neuzeit erblickt hat.
Kulturgeschichte der
Neuzeit, 4. Buch, 3. Kapitel. Vollständig auf gutenberg.spiegel.de
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